Rituale
Rituale sind das traditionelle Herzstück des Heidentums. Es ist nicht Theorie, sondern Praxis. Heide sein heißt das Heidentum auszuüben.
Hier stellen wir euch die wichtigsten geistigen Grundlagen, Regeln und Beispiele dieser Ritualtradition vor.
Wesen und Sinn von Ritualen
Das germanische Heidentum ist wie alle alten Religionen kein "Glaube", wie ihn Christen oder Moslems verstehen. Die Götter, die ebenso unzweifelhaft existieren wie die Natur, der sie angehören, haben es weder gefordert noch jemals nötig gehabt, dass man an sie "glaubt"!
Die rituelle Erfahrung
Hier kommunizieren wir mit den Göttern und sie mit uns, und wir tun es in einer Weise, an der jeder teilhaben kann. Vom ersten Tag an kann jeder, der den Göttern opfert, sie auch erfahren.
Die Begriffsbildung unserer Vorfahren zeigt, dass das Ritual für sie die Schlüsselerfahrung war.
Die Heilswirkung des Rituals
Neben der Erfahrung der Götter vermittelt das Ritual natürlich auch Heil. Dies ist kein vom natürlichen Leben abgelöstes, begrenztes "Seelenheil", denn im Heidentum als Naturreligion ist nicht nur die Seele wichtig. Deshalb ist auch die Heilswirkung des Rituals umfassend und ebenso irdisch und handfest wie spirituell.
Im Ritual erhalten wir Anteil am Heil der Götter, denen wir in ihm begegnen, und am Heil, das alle Teilnehmer als einzelne oder Sippen, aber auch die Festgemeinschaft als ganze hat. Wir nehmen auch das Heil auf, das in alten Kultstätten oder natürlichen Kraftplätzen, in den rituellen Geräten, die durch vielmalige Verwendung geheiligt sind, und in den Ritualen selbst liegt, und schließlich das Heil der Ahnen, denen wir nachfolgen.
Da das germanische Heilskonzept ganzheitlich ist, geht es - von rein persönlichen Ritualen abgesehen - nie um das isolierte Heil des einzelnen, sondern immer um Größeres: Heil für unsere Sippe und Gemeinschaft, unser Land und seine Natur. Auch wer ein kultisches Ritual, z.B. ein Jahresfest, allein feiert, tut es nicht nur für sich.
Verbindung mit Ahnen, Erde und Göttern
Ein weiterer Sinn religiöser Rituale liegt darin, dass sie verbinden und bestehende Bindungen pflegen und stärken. Nicht nur zwischen den Teilnehmern, sondern vor allem zwischen ihnen und den Göttern, der Natur und den Ahnen. Wir sind nicht bloße Geschöpfe eines fremden "Handwerkers", sondern als Kinder der Erde auch Angehörige unserer Götter.
Heidentum ist also kein Glaube an die Götter, sondern eine Verwandtschaftsbeziehung zu ihnen.
Sie sind unsere Freunde im alten Sinn dieses Wortes, das ursprünglich Verwandte bezeichnete. Diese Freundschaft ist unser natürliches Erbteil als Angehörige der Götter. Sie muss im Ritual nicht erst hergestellt, aber gepflegt und immer wieder gestärkt und erneuert werden - so wie wir auch zwischen Menschen die Freundschafts- und Sippenbande pflegen: durch Zusammenkünfte, Geschenke, gemeinsames Essen und Trinken. In der Religion sind dies die Feste mit Opfergaben, Opfermahl und Trankopfer.
Das heilige Fest
Das religiöse Ritual des germanischen Heidentums hat seinen Ursprung nicht in dunklen Mysterien, die einer komplizierten esoterischen Deutung bedürfen. Es wurzelt in den Bindungs- und Festbräuchen unserer Ahnen, wie es sie auch im zwischenmenschlichen Bereich gab, und in der hohen, ja heiligen Bedeutung, die dabei die Tischgemeinschaft, das Zutrinken, Geschenke und ehrende Reden hatten.
Das traditionelle germanische Kultritual ist ein heiliges Fest, zu dem wir die Götter als unsere Freunde und Wohltäter einladen und das wir ihnen zu Ehren feiern. Es ist eine Begegnung mit ihnen in feierlicher Gemeinschaft und ein Akt ihrer Verehrung, die keine "Anbetung" in Demut und Unterwerfung ist, sondern die Ehre, die Freunde in Freiheit und Würde den Freunden erweisen.
Das traditionell wichtigste Mittel dazu bestand darin, zu ihren Ehren zu trinken. Das Wort blót (nordisch) oder bluostrar (althochdeutsch) für ein religiöses Fest, ist mit nordisch blótna, nass werden, verwandt und bezeichnet ursprünglich das Trankopfer. Schon im Gotischen gewann das Zeitwort blotan die allgemeine Bedeutung "verehren".
Êwa - der heilige Vertrag
Warum aber verehren wir die Götter? Weil sie großartige Wesen sind, die es verdienen, aber natürlich auch, weil sie uns ihr Heil geben und uns zahllose Segnungen schenken. In der germanischen Tradition ist es Ehrensache, Geschenke zu erwidern. "Die Gabe will stets Vergeltung", sagt die Edda.
Die Êwa verbindet uns mit den Göttern in gegenseitiger Treue, mit der sie uns ihre Gaben schenken und wir sie ihnen mit Gebeten und Opfern vergelten.
Das Opfer
Das Opfer ist die wichtigste religiöse Handlung des germanischen Heidentums.
Sinn und Hauptregel des Opferns erklärt die Edda im Hávamál-Vers:
„Ey sér til gildis gjöf – Die Gabe will stets Vergeltung."
Das Opfer ist auch keine „Bestechung" oder „Beschwichtigung" der Götter. Es ist ein Geschenk nach dem auch im zwischenmenschlichen Leben geltenden Grundsatz von Gabe und Gegengabe.
Da es eine „Vergeltung" ist, die naturgemäß im Nachhinein erfolgt, wird ein Opfer im allgemeinen als Dank für erhaltene Gaben dargebracht: nach einem Sieg, nach der Geburt eines Kindes, nach der Ernte und zu den übrigen Jahresfesten in erster Linie als Dank für die Gaben der vergangenen Jahreszeit. Opfer können aber auch im Vorhinein als Bittopfer dargebracht oder für den Fall der Erfüllung einer Bitte gelobt werden.
Das Trankopfer – Blót / Bluostrar
Geopfert wird vor allem Met oder ein anderer geweihter Opfertrank, z.B. eigenes Festbier, dessen Brauen in alter Zeit bereits Teil des Rituals war. Das Trankopfer, nordisch blót, ahd. bluostrar , ist das wichtigste Opfer, das bei jedem Fest dargebracht wird. Besondere Rituale wie das Sumbel oder Symbel , das zu jedem Anlass abgehalten werden kann, oder das Minni- (Gedächtnis-) Trinken zu Ehren Verstorbener bestehen nur aus einem Trankopfer mit einleitenden Worten, die nordisch formáli (Vorspruch) heißen.
Bei allen Trankopfern weiht der Kultleiter das Horn mit dem Hammerzeichen und dem Spruch „Thor weihe dieses Horn" (diesen Met, diesen Trank o.ä.), spricht sein formáli und gießt zuerst einen Schluck auf die Erde oder in eine mit Erde gefüllte Opferschale und trinkt dann einen Schluck. Danach gibt er mit den Worten „Trink Heil" das Horn in Richtung des Sonnenlaufs (Uhrzeigersinn) an den Nächsten weiter, der „Sei heil" antwortet und ebenso verfährt. Normalerweise kreist das Horn drei Mal. Meist wird die erste Runde zu Ehren der Götter getrunken, die zweite zu Ehren der Ahnen, bei der dritten sind die Segenswünsche frei.
Andere Opfergaben – das Opfermahl
Historisch bezeugt sind die verschiedensten Opfergaben von einfachen Feldfrüchten über Hausrat und Werkzeuge bis hin zu teurem Schmuck und Waffen, Tieren und sogar Menschen.
Ein Opfermahl ist ein Festbankett, das zu Ehren der Götter gegeben wird. Wir laden sie ein, mit uns gemeinsam zu essen, um sie damit zu ehren und das Band zwischen ihnen und uns zu stärken. Wie beim Trankopfer wird ein Teil der Speisen geopfert und der Rest von den Festteilnehmern gegessen. Traditionell ist das heiligste Opfertier das Pferd, dessen Fleisch vermutlich überhaupt nur beim Opfermahl gegessen wurde, weshalb die Kirche im Jahr 732 den Genuss von Pferdefleisch verboten hat.
Das Gebet
Grundform der Rituale aller Religionen ist, dass man zu den Göttern betet und sie anruft.
Eine Anrufung ist noch kein Gebet. Sie wird am Anfang eines Gebets oder für sich allein am Anfang eines längeren Rituals gesprochen, wenn wir die Götter nennen, die wir damit verehren wollen, sie begrüßen und einladen, mit uns zu feiern. Die einfachste traditionelle Form ist ein schlichter Heilgruß, mit dem z.B. das Gebet Sigrdrifas in der Edda beginnt. Erweitern kann man sie mit ehrenden Beinamen und Funktionsbezeichnungen, z.B. „Heil Thor, Midgards Schützer", oder indem man besondere Segnungen und Taten einer Gottheit erwähnt. Dadurch kann die Anrufung nahtlos ins Gebet übergehen.
Das Gebet ist in der germanischen Tradition keine „Anbetung" im Sinn einer demütigen Lobpreisung und Unterwerfung. Die Götter werden zwar gerühmt, wie z.B. Odin im Gebet aus dem Hyndlalied, das seine Segnungen aufzählt, doch man spricht nicht unterwürfig zu ihnen, sondern mit freier Würde – nur so sind wir des Gesprächs mit den Göttern würdig.
Aufbau eines Gebets
Die wenigen überlieferten Gebetstexte zeigen einen sehr variablen, im Prinzip aber einheitlichen Aufbau, der einer einfachen Logik folgt: Zuerst werden die Gottheiten, an die man sich wendet, mit ihren Namen und eventuell Funktionen und Beinamen und mit einem Heilgruß angerufen, erst danach spricht man konkret Bitte oder Dank aus.
Besser nicht gebetet als zuviel geboten
Allgemein gilt der Hávamál-Satz „Besser nicht gebetet als zuviel geboten" sowohl für Gebete, bei denen man Opfer anbietet, als auch für solche, deren Gabe an die Götter „nur" ehrende Worte sind. Überschwang und Schmeichelei sind der germanischen Tradition fremd. Man sollte die Götter auch nicht um Dinge bitten, die man ohne ihre Hilfe genauso gut erreichen kann. Es ist nicht ihre Aufgabe, sich um jede Kleinigkeit zu kümmern. Wir brauchen auch nicht zu fürchten, zu wenig an die Götter zu denken, wenn wir in den Dingen des Alltags „auf unsere eigene Macht und Stärke vertrauen", wie die Wikinger sagten, denn diese Macht und Stärke (mátt ok meginn) kommt letztlich von ihnen und wurde uns gegeben, damit wir von ihr Gebrauch machen.
Germanische Heiden beten daher weniger als Angehörige mancher anderer Religionen, mit spröderen Worten und, wie schon ausgeführt, ohne Demut und Unterwürfigkeit, aber keineswegs weniger ehrlich und inbrünstig. Je seltener das Gebet, je wichtiger sein Anlass und je klarer und geradliniger seine Worte sind, umso wertvoller ist es auch.
Festablauf
Für alle Rituale gleich sind drei Grundelemente unerlässlich:
Einhegung und Weihe des Kultplatzes
Anrufungen und Festgebete
Opferungen und Blót
I. Haga und Wîha (Einhegung und Weihe des Platzes)
II. Heilazzen (Begrüßung und Einladung der Gottheiten)
III. Reda (einführende Rede des Druiden)
IV. Spill und Gibet (Anrufungen und Festgebete)
V. Gilt (Opferungen der Gemeinschaft und Einzelner)
VI. Bluostrar (Blót – das Trankopfer)
VII. Ûzlâz (Dank und Öffnen des Festkreises)
I. Haga und Wîha – Einhegung und Weihe
Dadurch wird der Kultplatz vom profanen Alltag abgegrenzt und zu einem „heiligen Raum", in dem sich Götter und Menschen in einer „heiligen Zeit" begegnen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins sind. Er wird außerdem vor schädlichen Einflüssen geschützt und der Verehrung der Götter und Göttinnen geweiht. Am besten geschieht dies durch die Hammerhegung (ahd. Hamarhaga), bei der in alle vier Himmelsrichtungen sowie nach oben und unten der Thorshammer geschwungen und damit Thor, der „Weihegott" (nord. Vingþórr oder Véorr), um Schutz und Weihe angerufen wird.
Eine weitere Form, die auch zusätzlich erfolgen kann, ist die Anrufung der Elemente in der speziellen germanischen Form der Welhaga (Rundhegung), bei der nach der Regel Norden-Erde, Osten-Luft, Süden-Feuer und Westen-Wasser die symbolischen Elemente der Natur gemeinsam mit den in der Edda genannten Wächtern der Himmelsrichtungen Norðri, Austri, Suðri und Vestri angerufen werden.

II. Heilazzen – Begrüßung und Einladung der Gottheiten
Nach Haga und Wîha beginnt das eigentliche Ritual mit einem Eröffnungsgruß, dem „Heilsagen" (althochdeutsch heilazzen) an alle Götter und Göttinnen. Die einfachste Form ist in der Lokasenna der Edda überliefert:
Heil Asen! Heil Asinnen! Und alle hochheiligen Götter!
(nordisch: Heilir Æsir! Heilar Ásynjur! Ok öll ginnheilög goð!)
III. Reda – einführende Rede
Bei gemeinschaftlichen Ritualen ist es sinnvoll, wenn der Druide einige Worte über den Sinn des Festes, die Gottheiten, die dabei angerufen werden, und die mit ihm verbundenen Mythen spricht. Das erleichtert Teilnehmern, die im Heidentum noch wenig Erfahrung haben, das Verständnis und dient allen als geistige Vertiefung und Übergang zu den eigentlichen kultischen Handlungen.
Die Festrede (althochdeutsch reda oder firareda, feierliche Rede) sollte möglichst kurz sein, um niemanden zu ermüden, und nicht belehrend oder „predigend" wirken, sondern sachlich und klar das Wissen vermitteln, das Neue brauchen, es den Erfahrenen in Erinnerung rufen und die Gedanken aller Teilnehmer anregen und auf die Bedeutung des Rituals lenken.
IV. Spill und Gibet – Anrufungen und Festgebete
Wie unter „Das Gebet" erklärt, gliedern sich germanische Gebete traditionell in einen erzählenden, die Götter rühmenden und auf ihre mythischen Taten bezogenen Teil, das spill, und einen anschließenden Teil mit den konkreten Bitten und Danksagungen, das eigentliche Gebet oder ahd. gibet. Das Spill spricht man „selbstlos" rein zu Ehren der Götter, oft in poetischer Form aus alten Texten oder selbst gedichtet, beim Gibet kommt man „zur Sache" und dankt den Göttern z.B. bei Jahresfesten konkret für die Segnungen der abgelaufenen Jahreszeit und bittet sie um ihr Heil im kommenden Abschnitt. Wie man diese Teile ordnet, ist frei. Spill und Gibet werden von Druiden, oft aber auch abwechselnd von mehreren oder allen Teilnehmern gesprochen.
Nach den Festgebeten ist auch der geeignetste Zeitpunkt, um eventuelle Sonderrituale einzufügen, die mit dem Fest verbunden werden sollen, etwa eine Heilung, eine Weihung besonderer Dinge und ähnliches.
V.Gilt – Opferungen der Gemeinschaft und Einzelner
Alle Opfer, die keine Trankopfer (nord. Blótar, ahd. bluostrare) sind, werden ahd. gilt oder gelt (nord. gildi), d.h. „Vergeltung" der Gaben der Götter genannt. Es sind dem Festanlass entsprechende Ehrengaben, Dankgaben oder Teile des Opfermahls. Sie können sowohl von der ganzen Festgemeinschaft als auch von Einzelnen dargebracht werden.
Die Gemeinschaftsopfer weiht der Druide mit dem Thorshammer , spricht einen Opferspruch und übergibt sie dem Feuer oder wirft sie, wenn man dort feiert, in ein Opfermoor, einen Teich oder Fluss. Nach dem gemeinsamen Opfer hat jeder Teilnehmer Gelegenheit zu eigenen Opfern.
VI. Bluostrar – Blót – Trankopfer
Wenn alle Gilt dargebracht sind oder in der einfachen Ritualform direkt nach Spill und Gibet folgt der Abschluss und Höhepunkt jedes Festes, das Bluostrar oder Blót. Dabei wird auf alle, besonders aber auf die mit dem Fest verbundenen Götter getrunken, das heißt der Festtrank mit ihnen geteilt und dadurch die Gemeinschaft mit ihnen besiegelt. Der Druide beginnt, indem er das Horn mit dem Hammerzeichen weiht, seinen Sehensspruch (formáli oder bluostragaldar) spricht und einen gut bemessenen Teil des Opfertranks auf die Erde oder in einem geschlossenen Raum in die mit Erde gefüllte Blótschale gießt. Dann trinkt er und reicht das Horn in der Richtung des Sonnenlaufs weiter. Auch die übrigen Teilnehmer opfern einen Schluck, bevor sie trinken.
VII. Ûzlâz – Dank und Anschluss
Ist das Horn nach der letzten Runde wieder beim Druiden angelangt, weiht er den Rest des Tranks als Opfer an die Erde und die Wesen des Platzes. Der Druide dankt den Göttern für ihre Teilnahme und den Wesen des Platzes für ihre Gastfreundschaft, wünscht den Feiernden ein glückliches Wiedersehen beim nächsten Fest und erklärt das Ritual für beendet.